Langgedicht LOST 2024
Entstanden im Rahmen des LOST-Festival nach gemeldeten Verlusten, Gesuchen und Funden der Bürger:innen von Thallwitz, geschrieben von Tim Holland und Magdalena Schrefel zwischen dem 13. und 17. August 2024
LOST
ein Langgedicht vom Verlieren, Suchen und Finden
für zwei Stimmen, die für viele Stimmen sprechen
PROLOG: VOM ERSTEN FINDEN
Ich suchte nichts und ich fand
zwischen Wurzen (acht Kilometer)
und Eilenburg (etwa sechs Kilometer),
inmitten der Auenlandschaft der Mulde
und den östlich gelegenen Hohburger Bergen,
im Tauchaer Endmoränenhügelland,
am Rand der Leipziger Tieflandbucht:
Thallwitz
und Lossa
und Nischwitz
und Kollau
und Wasewitz
und Canitz
und Röcknitz mit Treben
und Böhlitz mit Collmen
und Zwochau.
Und was noch?
Eine Chronik.
Und in der Chronik stand, dass Thallwitz schon ein
Mal gefunden worden war. Von Heinrich, dem
Erlauchten, 1253, am 31. Juli. Zumindest schrieb er
es da auf.
Oder jemand für ihn!
SPUREN
In den Zeiten ist zu finden:
1266 Talvitz,
1369 Talovicz,
1512 Tolewitz
und auch Dalovizi (aus dem Altsorbischen)
immer von der Sippe des Dalo stammend.
Und jetzt ist die Frage, wie viel von Dalo ist noch
zu finden, was hat sich mittlerweile verloren?
Was noch in den Zeiten zu finden ist:
Eins: 1679 herrscht ein ungewöhnlich milder Winter.
Die Dorfkinder laufen barfuß,
weil man es kann.
Zwei: Im Februar 1680 finden sich schon die ersten Störche ein.
Drei: Nur neun Monate später verliert sich am
Himmel ein großer Komet “mit sehr langem
Schweife”, der von Westen nach Osten weist.
Vier: 1682, Anfang Mai, findet sich – mit großer
Verwunderung – ein weiterer, hell leuchtender
langschweifiger Komet. Die Astronomen sehen
in seinem Erscheinen die Wiederkehr der Kometen
von 1456, 1531 und 1607.
Frage: Kann man Kometen suchen oder nur finden?
Ein Mädchen erzählte mir, sie habe einen Stern im Garten gefunden, klein, fünfeckig und gelb.
Also suchte ich im Garten, im Gras, unter den Büschen, im Heu, schließlich am Himmel.
Und ich suchte im Himmel und fand das Blau.
Und ich suchte im Blau und fand eine Wolke.
Und ich verlor die Wolke und fand ein Gesicht.
Und ich verlor das Gesicht und fand nur noch Schwarz.
Und im Schwarz fand ich einen Stern, klein und gelb und vielleicht fünfeckig.
Mir wurde schwindelig, ich suchte nach Halt, und ich fand ihn in wieder in der Chronik:
Fünf: In der Zeit selbst sind Löcher zu finden.
Am 14. Februar 1700 wird durch Regierungserlass
befohlen, dass dem Gregorianischen Kalender
zufolge auf den 18. Februar sogleich der 1. März zu
folgen hat.
Man hatte Zeit verloren.
Man musste sie wiederfinden.
Einwurf! Das kenne ich:
Ich habe Zeit gesucht und ganze Tage verloren.
Zum Beispiel ein Silvester, circa 2005.
Von Freunden weiß ich, es war das beste Silvester, das wir jemals hatten.
Aber ich habe keine einzige Erinnerung daran.
Und woher weißt du dann, dass es das Beste
Silvester jemals war?
Ich hab nach Erinnerungen gesucht und dafür Freunde gehabt.
Also weiter, sechs:
Am 15. und 16. Mai 1705 schneite es bei starker
Kälte in ganz Sachsen so gewaltig, dass die Knospen
und das frische Laub erfroren und dichter Schnee
die Felder bedeckte. Auf die Tiere machte dieses
Wetter einen solchen Eindruck, dass im
Schneegestöber sich die Störche verloren und die
Schwalben sich haufenweise zusammenschmiegten
oder tot zur Erde fielen.
1813 verlor sich Napoleon in Thallwitz,
1845 verlor sich Getreide an eine Hamsterplage.
VOM SUCHEN UND FINDEN, EIN ZWISCHENGESANG
Ich suchte Ruhe und fand keinen Schlaf.
Und ich suchte sie zu zählen, aber ich fand nur ein Schaf.
Und ich suchte Schlaf und ich fand eine Mücke.
Und ich suchte das Jucken, und ich fand siebzehn Stiche.
Und ich suchte Wasser und fand drüber Brücken.
Und ich suchte und fand gleich ein Haar in der Suppe.
Und ich suchte und ich suchte und ich fand keine Puppe.
Ich suchte und suchte und fand keinen Schlaf.
Und ich aß die Mehlsuppe und sie war gar nicht scharf.
Und ich suchte welche und fand keine Fehler.
Und keiner suchte Regen, der Regen war schneller,
der Regen wurde stärker, der Regen wurde Flut
und ich hatte nichts gesucht und es blieb nur die Wut.
Und ich suchte den Frieden und fand nur Krawall,
und suchte Boden unter den Füßen und fand den Blick ins All.
WAS VERLOREN WURDE, IN FAST ALPHABETISCHER REIHENFOLGE
Anstand
alte Tanten
und Arbeitskollegen
die Billigkeit
die Freiwilligkeit
und ein Fußballspiel
ein Fahrrad
eine Freundin
ein Füller
und das Feuerzeug
Glasaugen (einige)
Gedanken (viele)
Gehirn (eins)
die Geduld (unendlich)
dazu noch das Gefühl, ein richtiges Kind zu sein
und jemand anderes: das Gefühl, einfach ich zu sein (vor zwei Tagen verloren)
außerdem verlor sich:
ein Haar
ein Haargummi
ein Kaugummi
ein Kleid
eine Katze
und ein kleiner Bruder
die Kreativität
die Luft
die Liebe
und ein Ladegerät
Oma
Opa
und Uropa
die Rosenthalklinik
und Qualli, das tentakelige Wasserspielzeug
Respekt
ein Ring
ein Regenschirm
ein silbernes Rad mit hässlichem Sattel (Marke Diamant)
und ein Skateboard
Außerdem: Tomke!
– umgedreht, und zack, keine Tomke, kein Geruch, kein Gefühl, gar nix mehr.
Hat sich zum Glück nach drei Minuten von selbst wiedergefunden.
Ebenso verloren:
die schönen Wünsche
die Schönheit der Dinge
die Tradition und die Traurigkeit
dazu noch ein lustiges Video von einem Hund
Und:
das Wissen
die Wolken
und die Zeitlosigkeit
– genauer: eine Zeitfreiheit, also, wie man das als Kind in der Schulferien erlebt hat
Dazu noch: eine Zahl, die ihrer Hälfte gleicht, zuletzt gesehen in den natürlichen Zahlen,
aber wer weiß das schon.
zuguterletzt:
der Zusammenhalt
Ich hab noch was vergessen:
Mir fehlt eine Befestigungsschraube.
Sie ist klein, hart und eckig.
Und aufgefallen ist es, als jemand die Schraube gebraucht hat, zum Befestigen.
UNSORTIERTE ANZEIGE VON FUNDEN
aufgenommen unter anderem in den Formularen der Abteilung 121 – »Äh, was ist das denn?!«
Gefunden: eine beste Freundin, die ich eigentlich nicht gesucht habe.
Datum: 8. März 2020.
Gefunden: Meinen Hund
Beschreibung: Der ist schwarz und gestorben.
Aber nachts kommt er manchmal zu mir und liegt vor meinem Bett.
Gefunden: Eine Kindheitserinnerung
Beschreibung: Auf der Wiese vor der Waldbühne sind wir mit den Pferden bis zum Wald
galoppiert. Ein Wettrennen voll jugendlicher Leichtigkeit.
Wollen Sie den Fund weitergeben? – Ja, an alle, die die Geschichte hören wollen.
Gefunden: 5 Euro.
Beschreibung: Damit kann man was bezahlen.
Umstände: Ich hab den Schein im Bus gefunden.
Wollen Sie den Fund weitergeben? – Vielleicht, wenn ich mir was kaufen will.
Gefunden: das luxuriöse Gefühl, Zeit zu haben.
Beschreibung: ein unbeschreibliches Freiheitsgefühl, fast ohne Zwänge und Zeitdruck, ohne Müssen
und Sollen.
Umstand: Der Fund hat unmittelbar nach Beendigung meines Arbeitslebens stattgefunden.
Wollen Sie den Fund weitergeben? – Nein, weil ich das Gefühl behalten will.
Außerdem gefunden, in Kurzform:
Den Mond, ein richtig schöner großer Mond, vielleicht ein Vollmond, sonst ein Dreiviertel-Mond.
Eine Trinkflasche, nähere Beschreibung im Büro zu erfragen.
Die Liebe meines Lebens, die sich wie ein zukünftiger Lieblingssong in mein Leben gefaded hat.
Ein Meerschweinchen, das während der letzten Flut in seinem Käfig auf den Wellen trieb.
Ein Ipod, der zwei Jahre lang in der Suppenterrine versteckt war.
Und gerade eben hat jemand eine Spur von Malve gefunden, einen kleinen lila Ball.
Und wo ist sie jetzt?
UND ICH SUCHE UND SUCHE…
Und ich suche und suche und ein flauschiges Ziel
– scheu, gut sichtbar am Horizont.
Und ich suche und suche eine Sporttasche
– und darüber hinaus auch jugendlichen Leichtsinn.
Und ich suche und suche das Gefühl, dass alles in Ordnung ist
– nur selten stellt sich eine Ahnung davon ein, kurz vor dem Einschlafen.
Ich suche und suche den perfekten Zeitpunkt
– und du weißt, der tritt ein, wenn du mit dem Suchen aufhörst.
Ich suche und suche den Geschmack von Mehlsuppe, die meine Oma einst für mich kochte und jetzt niemand mehr kochen kann.
Und jemand sucht Liebe. Einfach nur Liebe, Liebe, Liebe
– und die suchen wir doch alle …
WAS SICH AUF DEM BODEN DES FUNDBÜROS NOCH ALLES (NICHT) FAND,
EIN SCHLUSSGESANG
Ich suchte und suchte und ich fand keinen Schlaf,
also suchte ich danach, wo im Dunkeln die Nacht lag.
Ich suchte nach Reimen, aber fand keine, also weiter:
Ich suchte das Licht und ich fand nur den Lärm.
Und ich hörte Geräusche und fand keine Quelle.
Und ich fand keine Antwort, weil ich die Fragen falsch stellte?
Und ich verlor meine Suche, und ich fand eine Webseite
– und darüber hinaus auch noch 2.778.432 andere.
Ich suchte nach Wahrheit und log möglichst wenig.
Ich suchte die Lügen und fand die Erzählungen.
Ich suchte die Sonne, aber fand nur das Grau (Erklärung: Januar)
Ich suchte die Sonne, aber fand Vitamin-D in Tablettenform (Erklärung: Februar)
Ich suchte und suchte, bis ich zur Waldbühne kam.
Da war so viel Sonne, dass mir nach Fluchen war (Erklärung: 17. August, 15:57).
Und ich suchte einen Kompromiss und fand einen schlechten.
Und ich suchte Ruhe und fand nur Plagen.
Und ich suchte Mut und wollte nichts wagen.
Ich suchte den Weg und fand keine Richtung.
Bis ich nach gar nichts mehr suchte und Freunde fand,
die mein Leben umkrempelten – Dörte, Herta und Wolfi!
Ich suchte nach Wachstum und ich fand Rezession.
Aber was ich eigentlich suchte, war eine gute Diät,
bis ich fand, dass mein Gewicht in Ordnung war.
Ich verlor meine Waage und fand die Zufriedenheit.
Ich suchte ein Bett und fand keine Wanzen.
Und ich fand Blumen – Blumen in den Vorgärten, Blumen auf dem Porzellan und Blumen im
botanischen Garten, wobei das Kräuter sind, sagte mir eine.
Und ich lese und ich finde Ordnungen und Familien: Hahnenfußartige, Veilchengewächse,
Mohngewächse bzw. Erdrauchgewächse, ich finde Buschwindrosen, Veilchen, Lerchensporn am
Ende der Treppe, vor dem inneren Auge.
Ich fand eine Raupe, aber keinen Buchsbaum.
Und ich fand ein Reh, aber keine Rehkitze.
Und ich suchte Hoffnung und fand bloß Angst
– bei mir war es genau umgekehrt: Ich fühlte die Angst und fand eine Hoffnung.
Und ich suchte und fand eine Vorstellung von den Dingen.
Und ich suchte weitere Antworten und ich fand:
Ja, Nein, Vielleicht, das kann man so nicht sagen, das …
Und ich suchte nicht und ich fand trotzdem: Wertschätzung.
Und Martin fand Louisa
Und Elly fand Ida.
Und ich suchte ein Einhorn und fand keins.
Und ich suchte dich und ich fand dich nicht.
Und ich habe den Weg verloren, aber nicht das Ziel.
Ich fand das Kollauer Wehr, aber keine Lachse.
Und ich suchte Thallwitz und fand Thallwitz
und ich fand
Lossa
und Nischwitz
und Kollau
und Wasewitz
und Canitz
und Röcknitz mit Treben
und Böhlitz mit Collmen
und Zwochau.
Und ich hatte keine Fragen mehr und trotzdem Antworten.
Und ich suchte nach Schlaf und einem Ende fürs Gedicht.
…
entstanden im Rahmen des LOST-Festivals
nach gemeldeten Verlusten, Gesuchen und Funden
der Bürger:innen von Thallwitz
geschrieben von Tim Holland und Magdalena Schrefel
zwischen dem 13. und 17. August 2024
im Rahmen von „LOST 2O24”- einem künstlerischen Projekt von FINE ARTS INSTITUTE LEIPZIG – FAIL und dem Outreach-Programm „Aktive Orte” der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden
gefördert durch: